Neues, Walter Benjamin

Masterarbeit: Die Mystik der Sprache im Werk Walter Benjamins

Franz Joseph Molitor, die Kabbala und jüdisches Denken

Abstract

Die Abhandlung diskutiert die Bedeutung der ›Magie‹ in Benjamins Sprachtheorie, die mit seiner Kategorie der ›profanen Erleuchtung‹ in Bezug gesetzt wird. Die biografische Untersuchung zeigt, dass Benjamin aus der jüdischen Mystik schöpfte, die er durch Gershom Scholem und Franz Joseph Molitor kannte. Unter Magie versteht Molitor »jene hohe magische Kraft, jene[n] tiefe[n] Sinn[,] das Innerste der Natur zu durchschauen« (M I, 130). Wesentlich für die Theorie Benjamins ist, dass in der Welt der Phänomene das innere Wissen ebenso zu finden ist wie in theologischen Offenbarungen der Gottheit. Bei Benjamin ist ›Magie‹ weitestgehend synonym mit ›Mystik‹. Das Wort beschreibt das immaterielle und transrationale, will sagen: lebendige, geistige Element der Sprache. Benjamins wichtigstes Thema war die profane Welt, die er mit einer eigenen Methode untersuchte. Diese Methode entnahm er aus der jüdischen Mystik der Kabbala, die neben Theologie und Aufklärung einen dritten Weg bietet, die Welt zu verstehen.

Eingereicht am 6.6.2022 zur Begutachtung durch Prof. Dr. Liliana Feierstein und Prof. Dr. Giorgio Busi (noch in Bearbeitung)

Da die Arbeit noch nicht begutachtet und angenommen ist, darf ich sie noch nicht veröffentlichen. Hier nur ein ganz kurzer Teil vom Anfang.

1 Einleitung

»Die magische Erfahrung wird Wissenschaft.« (GS IV, 116)

1.1 Mystik und Politik

Wenn diese Abhandlung eine Lanze für die mystische Seite Benjamins bricht, so soll dies nicht ohne verstärkte Absicherungen gegen Abgründe erfolgen, die auch Benjamin bekannt waren. Pierre Klossowski berichtet von einer Diskussion (ca. 1935) über die Geheimgesellschaft ›Acéphale‹, aus der das Collège de Sociologie hervorging:

»Verstört von der Ambiguität der A-Theologie der ›Acéphale‹-Gruppe hielt uns Walter Benjamin die Schlussfolgerung entgegen, die er aus seiner Analyse der bürgerlich-intellektuellen deutschen Entwicklung zog, nämlich, dass die ›metaphysische und politische Aufwertung des Nichtkommunizierbaren‹ (in Wechselwirkung mit den Antinomien der kapitalistisch-industriellen Gesellschaft) ein der Ausbreitung des Nazismus günstiges psychisches Terrain bereitet hätten. […] Trotz des Anscheins einer nicht reduzierbaren Inkompatibilität würden wir riskieren, das Spiel eines schlicht und einfach ›vorfaschistischen Ästhetizismus‹ zu betreiben.«

(Erdmut Wizisla: Begegnungen mit Benjamin, Leipzig 2015, 247f.)

Diese Gefahr ist extrem groß und ließ sich beispielsweise an den während der Pandemie entstandenen Verschwörungsnarrativen beobachten, wo esoterisches Gedankengut mit anarchistischen, aber auch rechten Ideologien eine Verbindung einging. Gleichwohl besteht erstens begründeter Verdacht, dass mystische Inhalte nicht zwingend mit rechter Ideologie einhergehen müssen. Zweitens sollten diese Inhalte den ›vorfaschistischen Ästhetizismen‹ nicht kampflos überlassen und vielmehr in den Dienst progressiver, aufklärerischer Kräfte gestellt werden.[1]

Benjamins mystische Inspirationen aus seiner Frühzeit wurden ab 1923 nach und nach durch marxistisches Gedankengut ergänzt und schließlich von diesem scheinbar abgelöst.

Die Forschungsfrage dieser Arbeit ist, inwiefern Benjamin für seine frühe Sprachtheorie aus jüdischen mystischen Quellen schöpfte und selbst mit mystischen Einsichten begabt war. Dabei war ihm dieses möglicherweise selbst nicht vollständig bewusst. Je mehr sich die historische Situation des Nationalsozialismus verschärfte und auch seine eigene persönliche Existenz bedroht war, umso mehr wendete er sich der dialektisch-materialistischen Philosophie zu. »Benjamins Gewissen, das ihn zwang, den Leiden der Welt seine künstlerische Seele zum Opfer zu bringen, siegte.« (Hans Richter in Wizisla 2015, 244f.) Er opferte ihr auch seine mystische Seele.

Gleichwohl blieben Benjamins theologische Inspirationen und seine eigenen mystischen Kompetenzen subliminal erhalten und lassen sich auch im Spätwerk finden. Sie bilden eine unreduzierbare Komponente in der Entstehung seiner philosophischen Erkenntnisse und gehören zu seinem integralen Ansatz, der eine Synthese der Extreme anstrebte, zwingend dazu. So ist der hässliche Zwerg im Schachautomaten die Theologie, die zwar niemand sehen will, die aber letztlich der Akteur im Maschinenraum des Denkens ist, mit dessen Hilfe die theoretische Analyse erst belastbare Ergebnisse hervorbringt.[2]

Bei all diesem Potenzial an nachhaltiger Erkenntnis ist die Absicherung der Mystik gegen ›vorfaschistischen Ästhetizismus‹ unabdingbar. Sie gelingt durch politische Bildung. In der Verbindung mit aufgeklärten, demokratischen, antifaschistischen politischen Positionen – um vom zurzeit verrufenen historisch-dialektischen Materialismus zu schweigen – vermag die Mystik erst ihr volles Potenzial zu entfalten, denn echte Spiritualität transzendiert alle ideologischen Vorbehalte wie Geschlecht, Ethnie oder sozialen Status und ist in einer tiefen Weise emanzipativ. Sie befreit den Einzelnen gerade aus seiner mythischen Schicksalsergebenheit und macht ihn zum urteilsfähigen Subjekt.

Unbedingt ist hierfür eine Unterscheidung zwischen Religion und Spiritualität vonnöten, wie sie z. B. der Philosoph Thomas Metzinger in drei Thesen formulierte:

»[1] Das Gegenteil von Religion ist nicht Wissenschaft, sondern Spiritualität.

[2] Das ethische Prinzip der intellektuellen Redlichkeit kann man als einen Sonderfall der spirituellen Einstellung beschreiben.

[3] Die wissenschaftliche und die spirituelle Einstellung entstehen in ihren Reinformen aus derselben normativen Grundidee.«

(Metzinger, Thomas: Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit, in: ders.: Der Egotunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, 2. erweiterte Auflage, München 2014, 378)

Religion und Spiritualität sind nicht das Gleiche. Während historische Religionen orthodoxe, normative und doch gleichzeitig kontingente Formen sind, betrifft Spiritualität, i. e. Mystik, den interreligiösen, transhistorischen und transrationalen Kern, das Innerste der Wirklichkeit.

1.2 Die Dekonstruktion der Mystik

Die Hauptforschungsfrage dieser Arbeit ist, ob und wenn ja inwiefern Walter Benjamin seine Sprachtheorie aus der jüdischen Mystik der Kabbala schöpfte. Der renommierte Benjamin-Experte Daniel Weidner wollte sich in seiner Dissertation über Gershom Scholem kein eigenständiges Urteil über die Kabbala, die jüdische Geschichte oder die Assimilation bilden. Er hielt es für seine Arbeit nicht für möglich, Sach- und Wahrheitsfragen zu entscheiden. Er wollte allerdings zeigen, »wo diese Deutungen in sich problematisch oder zumindest fragwürdig sind« (Weidner 2002, 16). Die Epoché erscheint ihm methodisch notwendig, denn sie sei »die einzige Möglichkeit einer kontrollierten Argumentation« (ebd.). An Elisabeth Hamacher (vgl. Hamacher 1999) kritisiert er, dass auch bei ihr der wissenschaftliche Diskurs nicht gewährleistet ist, wenn sie über die Existenz einer mystischen Erfahrung bei Scholem spekuliert, denn es gehe um die »systematische Depotenzierung der Erfahrungsfrage«, weil sich Wissenschaft »nicht in dieser Weise auf weltanschauliche Grundlagen zurückführen lässt, sondern gerade in der Ausklammerung weltanschaulicher Glaubensfragen besteht« (ebd.). So meint Weidner: »Wie zu zeigen sein wird, ist für Scholems wissenschaftliches Vorgehen die Ausklammerung der Erfahrung gerade wesentlich.« (ebd.)[3] Er steht damit exemplarisch für den aktuellen Wissenschaftsdiskurs.

Die vorliegende Arbeit geht von der Möglichkeit einer mystischen Erkenntnistheorie aus, der zufolge die mystische Erfahrung ein Teil der wissenschaftlichen Erkenntnis sein kann. Es wäre zu untersuchen, ob bei Benjamin diese Erfahrung vorhanden war und seine theoretischen und philosophischen Aussagen geprägt hat, zumal in seiner frühen Phase.[4]

Gegenstände wie die Mystik oder der Messianismus werden laut Weidner allzu leicht zu Meinungen oder Glaubensartikeln hypostasiert, um dadurch eine theologische Perspektive zu legitimieren. Das wird für ihn »eine Art exotischer Metaphysik, ein herrenloses Gut, mit dem man sich nicht ohne wohliges Schauern schmückt« (ebd., 18). Konzepte wie ›Paradox‹ oder ›Dialektik‹ solle man »jedenfalls nicht in argumentativer Funktion« (ebd.) verwenden, und zwar weder bei Scholem noch bei Benjamin.

Weidner möchte auf die Thematisierung von Mystik verzichten, bescheinigt aber den Schriften Scholems doch etwas, was man als die profane Version einer mystischen Praxis interpretieren könnte. Scholems Texte seien nicht einfach nur Texte. »Scholems Texte sind weniger eine Beschreibung als eine Einschreibung: über ›Tradition‹ schreiben, heißt immer auch, sich in die Tradition stellen; über ›Zionismus‹ zu schreiben, heißt immer auch, als Zionist zu schreiben.« (ebd., 21, Hervorhg. v. Weidner) Wäre es möglich, diese Formulierung zu verlängern? Könnte man sagen, über eine ›mystische Erfahrung‹ zu schreiben, heißt immer auch, als Mystiker zu schreiben?[5]

»Man liest diese Texte daher nicht komplex genug, wenn man sie nur deskriptiv versteht; Schreiben ist hier Handlung, Praxis und auch Entwurf, d. h. es stellt einen Versuch dar, sich zu verwirklichen und einen Ort zu finden.« (ebd.) Scholems und erst recht Benjamins Schreibpraxen sind eben nicht nur deskriptiv oder historiografisch. Sie enthalten eine Metaebene, wo die Sprache zugleich die Handlung ist (s. Kap. 5). Mit Benjamin könnte man sagen, das ist, wie unfertig und versuchshaft in unserer gefallenen Situation auch immer, adamitische Namensprache – nicht ideologische, verdinglichte Sprache, die nur von außen abtastet und begreift, sondern lebendige Sprache, wo die Differenz von Theorie und Praxis hinfällig wird, weil die Worte aus der inneren Ebene emanieren, die echten Namen empfangen und mitunter sogar neue Wirklichkeit schöpfen.

Dass ein säkularisierendes Vorgehen noch von ganz anderer Seite problematisch sein kann, zeigt die postkoloniale Theorie. Walter Mignolo hat hierzu einen dezidiert post-säkularen Standpunkt:

»Briefly stated, the spiritual option advocates decolonizing religion to liberate spirituality. It operates mainly at the level of knowledge and subjectivity (in the scheme of the colonial matrix), but it is fundamental to the decolonization of economy and politics […] There is no safe place. Spirituality can be found beyond religions (in the etymological sense of the word, which means ›community building‹, not only in its sacred dimension) […]. What the spiritual option offers is the contribution of opening up horizons of life that have been kept hostage (that is, colonized) by modernity, capitalism, and the belief in the superiority of Western civilization. Hardcore materialists tend to look at spirituality as related to ›new age‹ or to soft and romantic revolutionaries. By such arguments, progressive secular intellectuals indirectly support capitalist’s arguments for modernity and development. I see the spiritual option differently.«

(Walter D. Mignolo: The Darker Side of Western Modernity. Global Futures, Decolonial Options, London 2011, 62f.)

Mignolo unterscheidet wie Metzner zwischen Religion und Spiritualität. Die Ausklammerung der spirituellen Option ist herrschaftssichernd im Sinne des kapitalistischen, rassistischen und kolonialistischen Narrativs des Westens. Sie ist damit eine Form des ›Otherings‹. Dies hat Folgen – nicht nur politisch, sozial und ästhetisch, sondern auch epistemologisch.

Mittlerweile lässt sich in der Forschung auch eine Historisierung des Säkularisierungstheorems beobachten (vgl. Almog, Yael, Sauter, Caroline & Weidner, Daniel (Hg.): Kommentar und Säkularisierung in der Moderne. Vom Umgang mit heiligen und kanonischen Texten, Paderborn/Leiden 2017, 12).

(…)


[1] Enzo Traverso sieht keinen Widerspruch zwischen Benjamins theologischen und politisch linken Ansätzen: »In fact, Benjamin neither ›swung‹ nor ›was torn between‹ these two poles; he created a bridge between Judaism and revolution and considered himself a Marxist while being at the same time profoundly Jewish. […] Unlike the Marxists of his time, he was attracted by the spiritual and religious strength of Judaism, not by its social or national aspects.« (Traverso 2019, 159) S. auch: »Instead of rules and liturgies, Judaism represented for him a sensibility and a spiritual value.« (ebd., 160) Zur Verbindung von Kabbala und Kommunismus s. auch McBride 1989. Der Sammelband von Dickinson und Symons über Walter Benjamins Theology (2016) vertritt die Auffassung: »Numerous scholars of Benjamin’s work agree, however, that the time has come to reassess what stake the theological has within his writings.« (ebd., 1) Sie unterscheiden allerdings nur zwischen Theologie und Profanem und innerhalb der Theologie nicht zwischen Religion und Mystik.

[2] Vgl. Walter Benjamin: Thesen zum Begriff der Geschichte, 1. These (GS I, 693).

[3] Jakob Taubes adressiert diese Problematik von ganz anderer Seite, wenn er von der Anfechtung der Mystik spricht, die gerade in jüdischen Kreisen vorherrscht: »… jüdische Mystik ist, nach Ansicht einiger, eine contradictio in adiecto.« (Taubes 2017, 12) Sowohl das orthodoxe Rabbinertum als auch die ›Wissenschaft des Judentums‹ stehen der Mystik kritisch gegenüber. Taubes sieht darin aber »ein[en] Rest des seichten, im neunzehnten Jahrhundert dominierenden Rationalismus« (ebd., 13) und tritt für eine wissenschaftliche Anerkennung der Mystik ein.

[4] Weidner scheint seine Haltung gegenüber der Erfahrung gewendet zu haben. Er schreibt fünf Jahre später, »nicht zuletzt formuliert Benjamin auch selbst einen Erfahrungsbegriff, der immer offen auf eine sakrale Dimension bleibt« (Weidner 2008, 33), und möchte ihn literatur- und kulturwissenschaftlich nutzbar machen. Scholem hat hierzu einen dezidierten Standpunkt: »Benjamin war ein Mann, dem okkulte Erfahrungen nicht fremd waren […].« (Scholem 1970, 201) Erfahrung war für Benjamin die zentrale Kategorie in seinem Aufsatz Über das Programm einer kommenden Philosophie: »Es handelt sich darum Prolegomena einer künftigen Metaphysik auf Grund der Kantischen Typik zu gewinnen und dabei diese künftige Metaphysik, diese höhere Erfahrung ins Auge zu fassen.« (GS II, 160) Eine richtige Einordnung von Benjamins Erfahrungsbegriff im Programm-Aufsatz bringt Richard Wolin (Wolin 1994, 31–37). Zur philosophischen Darstellung der Erfahrung bei Benjamin s. auch Geisenhanslücke: »Die Erfahrung, die Benjamin thematisiert, geht offenkundig über den Bereich des Rationalen hinaus. Jennings verweist vor diesem Hintergrund auf ›Benjamin’s conviction that extrarational experience alone can open to modern man aspects of his world‹.« (Geisenhanslücke 2020, 138f.)

[5] Auch hier scheint Weidner seine Position im Laufe der Zeit und im Zuge des ›religious turn‹ verändert und sich der Einbeziehung religiöser Aspekte in die Theorie geöffnet zu haben (vgl. Weidner 2010a). S. auch seine Beobachtung: »Secularization is not enough, religion reenters the discourse of culture and theory, and nary a theoretical approach exists to explain what happens here.« (Weidner 2010b, 134)

(In der vollständigen Arbeit gibt es natürlich für die Literatur genaue Quellenangaben im Literaturverzeichnis mit ca. 200 Titeln.)

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